Ich rede mit mir

«Hör’ dir doch endlich selbst zu!» Diesen Satz sprach eine Medizinfrau vom indigenen Volk der Creek in Kanada zu ihrer kalifornischen Schülerin. Ich las ihn in einem Buch, einem der vielen Bücher, aus denen ich, ebenfalls vieles, gelernt habe. Den Satz änderte ich später ab, sodass er besser für mich passt: «Ich rede mit mir.» Er gehört seither zu meiner Notfallausrüstung. 

Wann immer ich mich dabei ertappe, es also bemerke, dass ich in meinem Kopf grosse Reden halte oder gescheite Vorträge vor einem unbekannten aber nicht zu kleinen Publikum, oder dass ich meinen Mann Markus an meine Vorstellungen anpassen will («mach doch, tu doch, sei doch nicht so …»), oder dass ich die Mutter, die gerade entnervt ihr Kind anschreit, mit klugen Erziehungsvorschlägen versorge, oder den Motorsensenmann (hört der Kerl denn nie mehr auf?), ins Pfefferland verwünsche – ich sage laut: «Stopp!» und dann rede ich mit mir, auch laut. Ich halte Reden und Vorträge für mich, ich sage zu mir: «Mach doch, tu doch, sei doch nicht so …», ich gebe mir Erziehungsratschläge und verwünsche mich so weit weg wie möglich. Und das alles in derselben Stimmung wie vorher im Kopf zu meinen Opfern.

Das ist anstrengend und entlarvend und keineswegs schön für mich, wenn ich hören muss, was ich da an Besserwisserei und Gehässigkeit verbreite. Nur im Kopf? Diese faule Ausrede kann ich gleich zurücknehmen. Gift, ja Sondermüll, sind solche Gedanken auf jeden Fall, ob nur gedacht oder gesprochen. Sie vergiften zuallererst mich selbst und kriechen dann weiter und weiter und weiter. 

In diesem Zusammenhang, nämlich immer mal wieder zu meinen, ich sei anderen Leuten überlegen, fällt mir ein anderer Satz aus der Notapotheke ein. Er stammt von einer meiner Lehrerinnen. «Die andern sind auch nicht blöd», sagte sie schlicht. Einmal laut zu mir selbst gesprochen, und ich bin wieder auf Normalmass. 

Manchmal ist es natürlich angebracht oder notwendig, etwas zu sagen, auch wenn es unangenehm ist oder schwierig. Mein erstes Übungsfeld ist mein Zuhause. Nicht das «Schwätzele» mit unserer Katze Anima ist die Herausforderung, sondern ich bin sie, wenn auch nicht im Verhältnis zum Katzentier. Natürlich wäre es einfacher zu denken, Markus, mein nächster Mitmensch, weil Ehemann, sei schwierig. Ich könnte problemlos eine lange Liste über das Warum erstellen, aber auch hier muss ich sofort «Stopp!» zu mir sagen, denn wenn ich auf dieser Abwärtsspirale Fahrt aufnehme, bleibt an meinem Geliebten kein gutes Haar mehr und ich möchte den ganzen Bettel, einfach alles, hinschmeissen. 

Stattdessen, als wüsste ich es nicht zu gut: Ich muss bei mir selbst anfangen. Es ist das Einzige was wirklich weiterführt, «zuerst vor der eigenen Türe wischen» (meine Mutter). «Mist.» Genau. Der Mist muss weg oder besser als Kompost bei der Aufzucht eines sinnvolleren Kommunikationsverhaltens helfen. Mein Mist. Ich habe mich gedreht und gewendet, und die Sache ist noch nicht ausgestanden, wenn auch auf dem Weg der Besserung.

Wenn ich Markus etwas mitteilen will, was mir wirklich wichtig ist, etwas über mich, mein Innerstes, mein Frausein, dann muss ich zuerst für mich selbst ganz genau wissen, was ich sagen will und wie ich es sagen will. Ich rede wieder mit mir, laut, bis jeder Zweifel, jede Unsicherheit aus meinem Kopf und meinem Herzen gewichen sind. Das ist der erste Schritt. Den zweiten empfinde ich als noch fordernder, nämlich jeden Gedanken daran, wie mein Gegenüber reagieren könnte, fallen zu lassen. (Ich bin in der glücklichen Situation in einer gewaltfreien Beziehung zu leben.) Ich will etwas mitteilen. Der Empfänger ist völlig frei darin, wie er damit umgeht. Ich schiele nicht nach Anerkennung, ich manipuliere nicht. Und, wie immer die Reaktion sein mag, ich bleibe stehen, bei mir, für mich. Auch alleine.

Weil mir dies alles anfänglich nicht selbstverständlich war und noch immer nicht ganz ist, schlage ich meinem Mann Sitzungen vor. Ich informiere ihn darüber, dass ich ihm etwas mitteilen, erzählen, unterbreiten möchte und frage, ob das für ihn am kommenden Sonntag, nach dem Kaffee, passend wäre. So sind wir beide vorbereitet. Unsere Sonntagssitzungen. Sie haben mir, sie haben uns viel geholfen. Ausgeübt habe ich noch lange nicht. Die gut versteckten alten Verhaltensmuster sind raffiniert und ihre Überfälle blitzschnell. Aber ich bin auch schneller geworden, und wenn mich so ein Rückschlagkommando in die eigene Unterwelt schleppt und dort behalten will, rufe ich: «Stopp!» und ich schaue mich genau um, und wenn ich gesehen habe, was ich sehen kann, stehe ich zügig auf und sage zu mir: «Ich gehe weiter. Ich gehe einfach weiter.» Das habe ich mir vor langer Zeit versprochen. Und das Gehen, das aufrechte, geht immer leichter.