Eine Sommergeschichte

Juni 2023. Ich sitze im Schatten unseres Hauses in einem Gartenstuhl mit luftdurchlässiger Bespannung. Ein leichtes Lüftchen bringt etwas Kühlung, zum Glück, denn es ist 35 Grad heiss. Deshalb: eine Sommergeschichte. Ich bin ein wenig schlapp. Mein Blick gleitet zunächst durch unseren Obstgarten. Das Laub der Apfelbäume ist trotz Hitze und Trockenheit noch richtig grün, aber die Blätter wirken erschöpft und das nach dem Heuet nur langsam nachwachsende Gras darunter auch. Aber dann, dahinter, leuchtendes Gold.

Ein vor wenigen Tagen abgeerntetes Gerstenstoppelfeld strahlt gelbgolden im hellen Nachmittagslicht und daran angrenzend, in Weissgold, ein noch stehendes Weizenfeld.

Weiter, hangaufwärts, ein Häusergürtel mit Gärten, darüber die Wiesen der Burghalde und als Krönung der Mischwald des Siblinger Schlossrandens.  

Viel grün also, in allen Schattierungen, was meinen Augen und meinem Herzen wohltut, und Gold, das mich beglückt und mir zum Bewusstsein bringt, dass ich seit meiner Kindheit immer wieder auf Gold gestossen bin. Mein Schlappsein ist jetzt verschwunden und ich bin neugierig aufgeregt, wie es sich für eine Schatzsucherin gehört.

Eines meiner beiden Lieblingsmärchen war das Rumpelstilzchen. Meine Mutter musste es mir immer und immer wieder erzählen. Und ich spielte Rumpelstilzchen, und ich tanzte und sang Rumpelstilzchen, überall – zuhause, auf dem Weg in den Kindergarten oder zurück, und danach auf den Schulwegen: «Es ist gut, dass niemand weiss, dass ich Rumpelstilzchen heiss!» Dass ein Späher der jungen Königin den Namen herausfinden würde, damit hatte Rumpelstilzchen nicht gerechnet, ich auch nicht, und so sprang ich wütend in die Luft, riss mir das linke Bein aus und verschwand unter der Erde. Ich war ein Kind, das sich versteckte, wie das kleinste der sieben Geisslein im zweiten Lieblingsmärchen. Aber vom Verstecken will ich jetzt nichts wissen. Jetzt schürfe ich Gold. Stroh zu Gold spinnen, das konnte, das kann Rumpelstilzchen. Das hat mich fasziniert, und ich habe es geglaubt, und irgendwie glaube ich es bis heute. Ich war immer sicher, dass das möglich sein muss, auch wenn mir das Wie schleierhaft blieb.

«Elisabeth, das Jurakalk–Kind» könnte diese Geschichte auch heissen. Geboren und die ersten fünf Jahre aufgewachsen bin ich am Rande der Lägern in der Region Baden, dann weitergewachsen am Jurasüdfuss in Aarau. Dann einige Zeit Grossstadtpflaster, und nun lebe ich seit rund vier Jahrzehnten auf den Kalksteinen des Siblinger Randens. Ich liebe dieses Gestein. Es ist immer freundlich, bei Sonnenschein ohnehin, aber auch bei trübem Wetter. Sein gelb zieht je nach Lage mehr gegen weiss oder gegen Gold, manchmal ist es leicht grau oder eher beige. An feuchten Orten bewachsen kleine Flechten und Moose die Steine. Hin und wieder finde ich eine Versteinerung, aus dem Jurameer. Und ganz leicht rosa schimmernde Kalke gibt es. Sie erfüllen mich mit Zärtlichkeit.  

Zärtlich, das ist natürlich schön, aber ich kann auch anders, radikal. Den goldenen Ehering warf ich eines Tages in den Kehricht, den Chübelsack, auf Nimmerwiedersehen. Ich war nicht wütend und nicht kopflos, ich war entschlossen. Die Beziehung zwischen meinem Mann Markus und mir hat nach dem ersten Schrecken eine neue Stufe erreicht. Wir haben uns verändert, immer wieder. Ohne Transformation zieht sich das Leben zurück. Eine grosszügige Portion alchemistisches Stroh–zu–Gold–Spinnen ist für mich so notwendig, wie die Luft zum Atmen.

Zur Abwechslung jetzt ein wenig Silber. Wenig ist allerdings untertrieben, denn es geht um einen stattlichen Klunker. Eine andere Ringgeschichte. Sie geschah, als der Ehering schon seit geraumer Zeit fort war. Und ausgerechnet Markus musste ich darum bitten, mir dieses silberne Stück zu kaufen. Ich hatte einfach kein eigenes Geld mehr. Was ich selbst verdient hatte – aufgebraucht. Ausgestiegen aus dem Erwerbsprozess, um mein Leben aufzuräumen. Anfänglich dachte ich und glaubte es wirklich, dass das so ungefähr zwei Jahre dauern würde. Es dauert(e), ich sage bescheiden, länger. 

Also: Ich fuhr an einem schönen Samstagmorgen zu Anfang Mai nach Stein am Rhein, um zu bummeln. Wir hatten dort geheiratet. Ich bummelte an der Rheinpromenade und durchs Städtchen, beguckte die Schaufenster und auch diejenigen eines Ladens, tempi passati, in welchem es aus aller Welt alles gab, was schön und interessant ist. In einem der Fenster lag dieser grosse, schwere Silberring mit einem grossen Lapislazuli, ein Stein wie der Sternenhimmel. Ich ging in den Laden, probierte und liess das Stück reservieren. Ich fuhr nach Hause. Ich bat Markus, mir den Ring zu kaufen, es sei wichtig für mich. Ich bettelte nicht. Das Betteln hatte ich abgelegt. Wir fuhren nach Stein am Rhein und mein treuer Gefährte kaufte diesen in Silber gefassten Nachthimmel für mich. 

Am Abend assen wir Chilbibraten, denn es war, wie immer am ersten Maiwochenende in unserem Dorf, Chilbi. Das war und ist die Geschichte meines Chilbiringes. 

Noch einmal Ringe, Augenringe. Nicht die blauschwarzen entlang der Nase und unter den Augen nach Übernächtigung, sondern goldene, in meinen Augen. Diese sind von Geburt an blau und von Gold war da lange nichts zu sehen. Irgendwann, so um die Vierzig, begann sich in jedem Auge ein zunächst ganz feiner goldener Kreis zu entwickeln. Von der Mitte, der schwarzen Pupille aus, folgt auf das Schwarz ein breiter hellblauer Ring, darauf ein feiner goldgelber und dann nochmals ganz wenig blau. Diese Veränderung bemerkte nicht ich, sondern eine Augendiagnostikerin; eine für sie bis anhin unbekannte Erscheinung. Und – die Ringe sind im Laufe der Jahre breiter geworden. Sie wachsen.

Der leuchtende Sonnenreif, der nun das Zeichen meiner Reisewerkstatt geworden ist, stand eines Tages plötzlich vor meinem inneren Auge. Zunächst gestaltete ich Informationskarten mit goldgelbem Japanpapier. Nach ein paar Monaten wurde das Bild deutlicher. Ich sah den Nachthimmel, die Milchstrasse, und darin reisend diesen gewaltigen Leuchtkörper. Ich spannte ein Stück ungebleichten Baumwollstoff auf einen Holzrahmen, kaufte Stoffmalfarben und malte, Schicht um Schicht, und während ich so malte, fielen mir meine Augen ein. Was soll ich sagen? Am besten wohl nichts. Ich staune. Im Jahr 2003 war der Sommer auch sehr heiss. Kurz vor der Gerstenernte erlebten wir in unserem Dorf etwas Machtvolles. Kornkreise erschienen, die ersten wohl in der Vollmondnacht des 15. Juni, ein zweiter, in die ersten Kreise verflochtener, zehn Nächte später, in einem nahezu reifen Gerstenfeld am Südrand des Dorfes. Kreise und Ringe in Gold geprägt. Ich erinnere mich sehr deutlich und auch jetzt erfasst mich, wie damals, eine glückliche Aufregung, und ich bekomme Hühnerhaut an den Armen und es sträuben sich mir die Nackenhaare, wie immer, wenn ich dem Wundersamen begegne. Da kann es noch so heiss sein.