Die wichtigste Persönlichkeit in meinem Innern ist die kleine Elisabeth. Sie ist mein Gedächtnis für die frühen Lebensjahre. Seit ich mir ihrer Bedeutung bewusst bin, ist sie meine erste Beraterin. Auf sie zu hören, musste ich erst üben und noch heute vergesse ich das manchmal, wenn es «strub» her- und zugeht oder aus Unachtsamkeit, was dasselbe ist, wie Lieblosigkeit mir selbst gegenüber.
Dieses kleine Mädchen ist lebenslustig, neugierig und es nimmt mich bei der Hand, um die Welt zu entdecken. Am meisten beeindruckt mich seine Zielstrebigkeit und sein gleichzeitig fröhlicher Schritt. Die ersten Zeichen seines Mutes erlebte ich in der Zeit, als ich wieder mit dem Weben angefangen hatte. Wann immer ich bei der Farbwahl für ein Garn unsicher war, sagte es: «Nimm das hellere, das leuchtet mehr.» Sein Rat war immer richtig.
Ich erinnere mich gerade daran, dass wir im Handarbeitslehrerinnenseminar für nicht korrekte, heisst dem damaligen Zeitgeschmack fremde Farbkombinationen, Notenabzug erhielten. So erlitt ich mit meinem in marineblau und laubgrün gestrickten Blätzlihampelmann aus mercerisiertem Schulgarn und orangen Verbindungskordeln jämmerlich Schiffbruch. Mich von solchen Erlebnissen zu heilen, hilft mir das kleine Mädchen, wenn ich, die Erwachsene, das zulasse.
Die Geschichte «Berta und Berta Anna» jetzt zu schreiben wage ich auch dank ihm. Ich hatte den Gedanken daran schon vor einiger Zeit, aber ich zögerte. Ob ich das darf? Ob ich das kann? Ob ich den beiden Frauen, welche diese Welt verlassen haben, gerecht werde? «Du könntest es doch probieren», sagt das Kind und geht auf Berta, meine Berner Grossmutter, und Berta Anna, meine Schwiegermutter, zu, und zwar so, wie es auf die meisten Menschen zugeht: Es streckt seine kleine linke Hand aus, umfasst, ganz leicht, eine Hand seines Gegenübers und streichelt mit seiner Rechten zärtlich über das Handgelenk, dort wo man den Puls fühlen würde. Ach, und es lächelt und ist dabei ganz ernst.
Jetzt, nachdem ich den Anfang gemacht habe, räume ich, zur Abwechslung, die Abwaschmaschine aus. Eine solche hatte weder Berta noch Berta Anna.
Die Berner Grossmutter. Wenn ihr Besuch nahte, herrschte in unserem Haus Hochspannung. Das lag, ich will das betonen, nicht an uns Kindern. Wir freuten uns. Aber die Erwachsenen taten sich schwer miteinander, meine Mutter, mein Vater und seine Mutter. Was da alles schief lag, wussten wir nicht, konnten uns aus da und dort aufgeschnappten Äusserungen auch nichts erklären. Und überhaupt, das ging uns alles gar nichts an. Am besten, das begriff ich rasch, wurden wir unsichtbar und mucksmäuschenstumm. Die Erwachsenen aber, vor allem mein Vater, durften laut werden, sehr laut.
In all dem Durcheinander war die Grossmutter ein Geschenk. Bei Regen kam sie ins Kinderzimmer und schaute mit uns aus dem Fenster. Wir standen da und schwiegen und schauten – jedes für sich und doch gemeinsam: Wie ein Regentropfen von einem Blatt fiel. Dann ein anderer. Wie die Tropfen glänzten. Wie sie es sich erst überlegten, so schien es, ob sie zu Boden fallen wollten oder nicht. Wie eine durch das Geäst hüpfende Amsel für ein wildes Durcheinander sorgte und unzählige Wassertropfen zum Kullern und Fallen brachte.
Oder – etwas ganz anderes. Wir besassen einen kleinen Spielzeugzug für sehr junge Kinder. Die Wagen waren längliche Holzklötzchen, jedes in einer anderen Primärfarbe, mit kleinen Rädern dran, und die Loki – rabenschwarzbraun, klar doch, bei all der Kohle und dem russigen Dampf. Mit diesem Züglein reisten wir entlang der Erzählstimme der Grossmutter in wohlklingendem und liebevollem Berndeutsch. Wir waren – überall, stundenlang. An all die Abenteuer, die wir erlebten, erinnere ich mich nicht mehr, aber dass wir welche erlebten!
Und gelacht haben wir, mit dem Chasperli, diesem Schlingel. Was der für Unfug trieb, und Luftsprünge machte er, und gejohlt hat er und gerülpst (g’görbslet). Und das Beste: Er wurde dafür nicht bestraft. Das freundliche Lächeln der Berner Grossmutter verzieh alles. Mein Herz hat sie längst heiliggesprochen.
Meine Grossmutter Berta habe ich als Kind und zu einem kleinen Teil noch als junge Erwachsene erlebt. Sie war schon längst gestorben, als ich Berta Anna, meine Schwiegermutter kennen lernte. Und erst kürzlich kam es mir zum Bewusstsein, dass sie in gewisser Weise länger Teil meines Lebens war als meine Mutter, Ursula. Sie blieb mir fremd, meine Mutter. Mein Vertrauen in sie erhielt früh Risse. Sie vermochte es nicht, mich vor meinem Vater zu beschützen, weder vor seinen Schlägen und Schlimmerem, noch vor seinem abgrundtiefen Zynismus. Sie waren beide Gefangene ihrer eigenen Geschichten, aber um das sehen und verstehen zu lernen, musste ich den Kontakt zu meinen Eltern abbrechen. Mitte Vierzig war ich damals.
Berti, wie die Mutter meines Mannes Markus von allen genannt wurde, lebte rund 200 Meter Luftlinie entfernt von uns in dem Haus, in welchem sie zusammen mit ihrem Mann Ernst fünf Kinder grossgezogen hatte. Die Familie bewirtschaftete einen Bauernhof. Viele Jahre lang reichte es gerade zum Leben. Als ich sie durch ihren Jüngsten, «de Markus», kennenlernte, war sie bereits mehrfache Grossmutter, s’Grosi. Das machte sie glücklich, mitzuerleben, wie die Enkelinnen und Enkel wuchsen, Schwarwälder Torten zu backen für Geburtstage und Familienfeste, uns alle mit den Gewächsen aus ihrem Garten zu beschenken, und, je älter sie wurde, einfach dabei zu sein. Gesprochen hatte und hat sie nie viel.
In ihren späteren Jahren, als sie verwitwet alleine lebte, lernte ich Berti etwas besser kennen. Ich ging mit unserem Hund Aras vorbei, um ein wenig zu plaudern oder einfach mit ihr auf dem Bänkli neben der hinteren Haustüre zu sitzen und in den Garten zu schauen. Unsere Alltagswelten waren sehr verschieden und ich konnte ihr nicht das erzählen, was sie interessierte, Geschichten aus dem Dorf, in das ich eingeheiratet habe und das mir nie so vertraut sein würde wie ihr, vor allem nicht die Zeiten, in denen sie jung war.
Manchmal fragte ich sie, was sie denke. Ihre Antwort war stets dieselbe: «Ich grüble nicht». Damit war das Gespräch beendet. Daran musste ich mich erst gewöhnen. Auch an anderes, etwa daran, dass sie auf eine Bitte stets antwortete: «Ich mache, wa me mi haasst». (Ich mache, was man mich heisst). Wenn Berti, als sie bereits im Altersheim lebte und die Neunzig überschritten hatte, unvermittelt etwas aus ihrer Kindheit erzählte, begann ich zu ahnen, warum sie so schweigsam war, stets befürchtete etwas Falsches und deshalb besser nichts zu sagen. Einmal, als die kleine Berta es besonders gut und richtig machen wollte und ihre Grossmutter mit «Sie» angesprochen hatte, brach eine schreckliche Strafpredigt über das Kind herein, von Hoffart war die Rede und sein Vater schlug es mit dem Handrücken auf den Mund.
Eines von Bertis Lieblingsliedern war:
Döt änne-n-am Bergli, döt stot e wissi Geiss,
i ha si welle mälche, do haut si mer eis.
Holeduli, duliduli…
Si hät mer eis ghaue, da tuet mer so weh,
jez mälchi miner Läbtig ka wissi Geiss meh.
Holeduli…
So sangen wir zusammen auf den Korridoren des Altersheimes eines ihrer und eines meiner Lieblingskinderlieder. Erst da verstand ich, dass dieses Lied das Liedlein der geschlagenen Kinder ist, ein Trotz- und Trostlied, und immer fröhlich, holeduli! Wir sangen es immer fröhlich, auch wenn die Tränen, die unterdrückten, die Stimme abzuwürgen drohten, meine jedenfalls. Berti sang klar und hell bis in ihr hohes Alter.
Sie grübelte nicht. Sie beschloss ihr Erdenleben in Frieden und, ganz zum Schluss, nur wenige Tage vor ihrem Tod, sagte sie von sich: «Ich bin Berta!» Anna war ihr zweiter Vorname, und diese Berta Anna erinnerte sich zuweilen an etwas Helles, Strahlendes, als sie noch ein Mädchen war, das Berteli, und mit den anderen Kindern, wenn auch nicht zu oft – man musste auch als Kind vor allem arbeiten – «Bachgumpis» spielte. Damals floss der Kurztalbach noch offen durch das Dorf. Von einem zum anderen Ufer sprangen die Kinder, hin und her, über den Graben und wieder zurück. Das brauchte Mut und Ausdauer. Leicht konnte man einen Schuhvoll herausziehen. Aber Berta Anna war flink und wendig. Sie sprang, und es war lustig, es bedeutete Freisein, Leben. Auf ihren faltigen Backen schimmert ein zarter Hauch rot und ihre blauen, beinahe blinden Augen leuchten wie Sterne.